In Alpbach ist es nun ja nichts Außergewöhnliches, auf weithin bekannte, verkannte oder mit letzteren verwandte Gesichter zu treffen. Eines ist es, ein Gesicht aus Wirtschaft, Wissenschaft oder Politik im Vorbeihuschen zu erspähen, und den soeben gewonnenen Eindruck mit dem Abbild aus Fernsehen, Radio und Printmedien abzugleichen (was durchaus auch zu überraschenden Erkenntnissen führen kann). Ein vollkommen anderes Gefühl beschleicht mich allerdings bei der neugewonnenen Erkenntnis, mich neben einer mir vorher nicht näher bekannten, aufgrund soeben erhaltenen Briefings aber offensichtlich äußerst wichtigen Person zu befinden. Ich nenne dies standortgemäß den ‘Alp-aha-effekt’; letztens so passiert bei den Breakout-Sessions der Politikgespräche, wie im Folgenden ausgeführt.
Morgens um 9:30 können wir in der uns schon aus der Seminarwoche bekannten Hauptschule aus 8 Themen wählen. Session 03 mit dem Thema ‘EU und Türkei: die Zusammenarbeit antreiben’ lockt in den ersten Stock. Den wissensdurstigen Stipendiaten wird das Anzapfen der Informationsquellen, die bis 12:00 nicht versiegen, nicht verwehrt. Die immer aktuelle Thematik der Türkeifrage, die immer noch nicht gelöste Problematik der Mitgliedschaft, der in der europäischen Politik zunehmend zweitrangige Zypernkonflikt und nicht zuletzt der Krieg um Kurdistan garantieren zweieinhalb Stunden intensiver Beschäftigung.
Folgerichtig wartet der engagierte, smarte Vorsitzende der Brüsseler Organisation ‘Young Friends of Turkey’ mit drei Vortragenden aus Politik und Wissenschaft auf. Pinar Ipek ist eine der führenden Expertinnen in der türkischen und europäischen Energiepolitik, zeigt die Möglichkeiten und angedachten Entwicklungen der europäisch-türkischen Energiepolitik auf, betont, dass die Türkei trotz fehlender eigener Rohstoffressourcen eine wichtige Vermittlerrolle zwischen Europa und Nahost einnehmen könne. Selim Yenel, türkischer Botschafter in Brüssel, stellt in seinem folgenden Statement klar, dass in der derzeitigen politischen Lage der erste Schritt zur Wiederaufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen vonseiten der Türkei kommen müsse, vorausgesetzt, die Zypernfrage werde vorher gelöst. Ein Jahr Zeit gebe er diesem diplomatischen Durchbruch noch, andernfalls müsse ein wie auch immer gearteter Plan B angedacht werden.
Und nun zum Alp-aha-Effekt: der mir am nächsten sitzende Referent mit der tiefen Kettenraucherstimme und akkurat gescheiteltem, schlohweißen Haupthaar ist niemand anderes als der für lange Jahre engste politische Berater Helmut Kohls! Prof. Joachim Bitterlich ist ein ‘elder statesman’ par excellence, ein Mann, der die Geschicke Deutschlands und Europas hinter den Kulissen mitbestimmt hat. (Anmerkung des Verfassers: Schon ziemlich cool, mit so hohen Tieren in einem Raum zu sitzen!) In klaren, deutlichen Worten spricht er seinen seit Jahren gereiften Lösungsvorschlag an, der die Türkei in einem 10-20-jährigen Prozess zu einer EU-Mitgliedschaft führen soll, die Energiefrage und die Rolle der Türkei als ‘helping hand’ im Nahostkonflikt seien dabei entscheidend. Nach den Statements können wir in kleineren Sitzgruppen nochmals mit den drei Experten diskutieren, Fragen vertiefen und bisher noch Unbenanntes wie die aktuelle Erdogan-Politik und deren totalitäre Tendenzen ansprechen. Ich bin positiv von der sachlichen und von gegenseitigem Respekt geprägten Runde überrascht, in der die Nationen bunt gemischt sind.
Typisch Alpbach eben, muss man erleben!